Unter dem Titel „Förderung demokratischer Bildung im Kindes- und Jugendalter“ stellte die damalige Familienministerin Franziska Giffey am 11.11.2020 den 16. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung vor. Es ist der erste Kinder- und Jugendbericht, der sich ausführlich und systematisch mit politischer Bildung befasst und der Frage nachgeht, wie junge Menschen zur demokratischen Teilhabe befähigt werden können.
Der Kinder- und Jugendbericht legt ein weites Demokratieverständnis zugrunde, das neben der institutionellen Dimension (Demokratie als Herrschaftsform) auch Fragen des alltäglichen und des gesellschaftlichen Zusammenlebens (Demokratie als Lebensform und Gesellschaftsform) in den Blick nimmt. Ausgangspunkt für die Forderung einer umfassenden demokratischen (also politischen) Bildung ist die Überlegung, dass Demokratie in allen Dimensionen durch tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen herausgefordert ist. Junge Menschen wachsen unter dem Einfluss sogenannter „Megatrends“ (wie z.B. die Ambivalenzen der Globalisierung, Klimawandel und Umweltzerstörung oder Flucht und Migration) sowie ganz konkreter Entwicklungen (Rechtsextremismus, Legitimationsprobleme der repräsentativen Demokratie) auf, die das Potenzial haben, Demokratie zu zerstören (S. 45 ff., S. 85 ff.). Diese Megatrends beschreiben zugleich das gesellschaftliche „Aufgabenportfolio für die heutige Generation“ (S. 85 im Kinder- und Jugendbericht).
Vor dem Hintergrund, dass jede Generation Demokratie neu lernen muss (Oskar Negt u.a.), braucht es tragfähige Konzepte und Strukturen der politischen Bildung. Denn nur so können junge Menschen darin unterstützt werden, diese Herausforderungen zu bewältigen. Die von Helle Becker für den 16. Kinder- und Jugendbericht erstellte Studie „Demokratiebildung und politische Bildung in den Handlungsfeldern der Kinder- und Jugendarbeit“ belegt, dass die Förderung gesellschaftlicher und politischer Teilhabe als Grundanliegen bzw. als Dauerthema in allen Feldern der Jugendarbeit angesehen wird und dort sowohl konzeptionell geplant, situativ anlassbezogen oder im Rahmen von „demokratisch bildenden Situationen“ stattfindet (S. 59 im Kinder und Jugendbericht).
Auch mit Blick auf die Breite der jugendpastoralen Handlungsfelder lässt sich feststellen, dass viele Bereiche der katholischen Jugend(verbands)arbeit politische Bildung nicht nur als Querschnittsaufgabe, sondern als immanentes und rechtlich verankertes Ziel (vgl. § 11 SGB VIII) verstanden werden kann. Zu diesen Handlungsfeldern zählen neben den Jugendverbänden auch die Jugendsozialarbeit, die Jugendbildungsstätten, die Freiwilligendienste, die Offene Kinder- und Jugendarbeit, die Erziehungshilfen, die Internationale Jugendarbeit und die Politische Bildung. Doch vor dem Hintergrund der weiten Definition, die Demokratie als Herrschafts-, Gesellschafts- und Lebensform betrachtet, lässt sich auch für die anderen jugendpastoralen Handlungsfelder, in denen sonst eher die Verkündigung im Mittelpunkt steht, die Notwendigkeit und das Potenzial für politische Bildung identifizieren.
Denn obwohl die Katholische Kirche selbst kaum demokratische Strukturen aufweist, bezieht sie deutlich Position für die Demokratie als Staatsform: „Jesus Christus, der Gekreuzigte und Auferstandene, beruft Menschen zur Freiheit. Die freiheitliche, rechtsstaatliche Demokratie mit ihrem unbedingten Respekt vor der Würde des Menschen und seinen unveräußerlichen Rechten bringt diesen Freiheitsimpuls des Evangeliums unter allen Staatsformen am deutlichsten zum Ausdruck“. Dem zugrunde liegt das Verständnis, dass eine Gesellschaft und deren politisches System den Menschen verpflichtet ist und deren freie Entfaltung fördern soll. Aus der Erkenntnis, dass Demokratie die beste Garantie für die Wahrung von Freiheit, der Würde und der Rechte eines oder einer jeden Einzelnen ist, leiten die Kirchen ihre Pflicht ab, sich aktiv für die Demokratie einzusetzen.
Wie bereits beschrieben, braucht es für politische Bildung keine formalisierten Angebote (Seminare, Unterrichtseinheiten, etc.). Kontaktflächen für politische Themen ergeben sich spontan in Gesprächen mit oder unter den Jugendlichen – auch in Kontexten, in denen der Fokus eigentlich auf anderen Themen oder Zielen liegt. Einfach, weil Politik alle Menschen betrifft. Auf Basis von Erfahrungen aus der Jugendverbandsarbeit konstatiert der Bericht, dass über kurz oder lang vermutlich alle Jugendgruppen zerfallen würden, bei denen sich Mitglieder auf die reine passive Präsenz beschränken würden, da so keine Gemeinschaft entsteht (Seite 366 ff.). Freiwillige Gemeinschaften (und darunter zählen die allermeisten Jugendgruppen in der kirchlichen Jugendarbeit) beruhen stets auf gegenseitiger Anerkennung und Partizipation der Beteiligten (ebd.). Und überall dort, wo Entscheidungen nicht für Jugendliche getroffen werden, sondern mit ihnen zusammen (oder noch besser: von ihnen selber) üben junge Menschen demokratische Verhaltensweisen ein. Sie lernen zu diskutieren, sich ein Urteil zu bilden, Interessen auszuhandeln, gemeinsam um Kompromisse zu ringen. Politische Bildung findet auch dann statt, wenn die Verantwortlichen in der Jugendpastoral zu Vermittlerinnen und Vermittlern zwischen dem Politischen und jungen Menschen werden. Wenn sie scheinbar unpolitische Fragen und Probleme der Jugendlichen aufgreifen und in einen gesellschaftlichen bzw. politischen Kontext stellen. Wenn sie politische Lernprozesse erkennen, begleiten, ermöglichen und reflektieren. Wenn sie junge Menschen ermutigen, ihre Angelegenheiten nicht nur im Privaten, sondern auch in der Gesellschaft selber zu regeln.
Handlungsbedarf sieht der Kinder- und Jugendbericht an verschiedenen Stellen. So kritisiert die Sachverständigenkommission beispielsweise, dass die „Räume“ der politischen Bildung wenig vernetzt sind. Hier kann die katholische Jugend(verbands)arbeit auf eine große Ressource zurückgreifen: Die gemeinsame Zugehörigkeit zur Katholischen Kirche, die viele verschiedene Akteur*innen der politischen Bildung (Schulen, Verbände, Jugendbildungsstätten, Offene Kinder- und Jugendarbeit usw.) unter einem Dach zusammenführt. So scheint der Aufwand vergleichsweise gering ist, entsprechende Kooperationen auf- oder auszubauen, die bspw. durch die Verbindung von formalen, non-formalen und informellen Bildungsansätzen auch ein Mehrwert in der Qualität politischer Bildung einzelner Akteur*innen schafft.
Zusammenfassend lässt sich noch einmal sagen, dass der 16. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung nicht nur Potenziale für katholische Jugend(verbands)arbeit aufzeigt, sondern in seinem Verständnis von Demokratie und demokratischer Bildung auch diejenigen jugendpastoralen Handlungsfelder einlädt, politisch bildend aktiv zu werden, die diesen Auftrag nicht eh schon für sich als Ziel oder Querschnittsaufgabe benannt haben.
Zur Autorin:
Marie Schwinning
Studierte Germanistin und Sozialwissenschaftlerin
Referentin für Politische Bildung bei der Arbeitsstelle für Jugendseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz.