Potenziale und Realität politischer Bildung in der Jugendverbandsarbeit
aus der Sicht des 16. Kinder- und Jugendberichtes

Jugendverbände und Jugendringe als Werkstätten der Demokratie – das ist eine in jüngerer Zeit gerne verwendete Formel der Selbstbeschreibung der Kinder- und Jugendverbandsarbeit spätestens seit dem entsprechenden Beschluss der Vollversammlung des Deutschen Bundesjugendringes vom Oktober 2018. Wie bei allen derartigen Formeln ist es aber hilfreich, sich hin und wieder auch die Frage zu stellen, inwiefern sie der Realität entsprechen. Anderenfalls würde man Gefahr laufen, einer Selbsttäuschung aufzusitzen.

Der 16. Kinder- und Jugendbericht

Einen hierzu hilfreichen Ausgangspunkt liefert der aktuelle 16. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung (16. KJB). Im Mittelpunkt dieses Berichtes stehen Angebote und Formate politischer Bildung in unterschiedlichen Räumen des Aufwachsens. Neben Familie, Kindertagesbetreuung, Schule, berufliche Bildung, digitalen Welten, Protestbewegungen, Freiwilligendienste, Hochschule, Bundeswehr, stationären Angeboten der Hilfe zur Erziehung, Jugendsozialarbeit, kommunalen Beteiligungsformaten u. a. ist dabei ein umfangreiches Kapitel der Kinder- und Jugendarbeit gewidmet (vgl. Deutscher Bundestag 2020, Kap. 10, S. 329-413). Nach einer kurzen Darstellung der leitenden Prinzipien von Kinder- und Jugendarbeit folgt ein längerer Abschnitt zur außerschulischen politischen Kinder- und Jugendbildung mit Exkursen in die internationale Jugendarbeit, die kulturelle Jugendbildung, den Sport sowie den Angeboten politischer Bildung von und in Vereinen junger Menschen mit Migrationsbiografien und/oder People of Color und anderer post-migrantischer Akteurinnen und Akteure. Der zweite größere Abschnitt in diesem Kapitel widmet sich der Kinder- und Jugendverbandsarbeit, an den sich ein ebenso umfänglicher Abschnitt zur Offenen Kinder- und Jugendarbeit sowie in der Aufsuchenden Jugend(sozial)arbeit anschließt.

Politische Selbstbildung

Politische Bildung wird von der Kommission des 16. KJB als ein von Subjekten, also im Zusammenhang mit Jugendarbeit von Kindern und Jugendlichen – „getragener Prozess der Herausbildung von Mündigkeit, der sich an demokratischen Grundwerten wie Menschenwürde, Gerechtigkeit, Gleichheit, Frieden, Solidarität, Emanzipation und Freiheit orientiert“ (Deutscher Bundestag 2020, S. 527) begriffen. Politische Bildung in diesem Sinne ist also Demokratiebildung. Dabei wird Bildung im klassischen Sinne als Selbstkonstruktion des Subjektes, also als Selbstbildung verstanden, während zugleich deutliche Distanz zu Top-Down-Vorstellungen der Vermittlung von Demokratie gewahrt wird. Die leitende konzeptionelle Idee des 16. KJB lautet dementsprechend politische Selbstbildung in den unterschiedlichen Räumen des Aufwachsens.

Um diese Idee greifbar zu machen, schlägt die Kommission ein drei-dimensionales Konzept von politischer Bildung vor, dass m. E. auch für die Praxis der Kinder- und Jugendarbeit hilfreich ist (vgl. Deutscher Bundestag 2020, S. 128ff.). Sie unterscheidet dabei zwischen

Demokratie als Bildungsgegenstand: Gemeint ist damit, dass politische Bildung nicht umhinkommt, Wissen und Information über Demokratie zu vermitteln. Demokratie und ihre Strukturen und Verfahren erschließen sich nicht von allein, sondern es bedarf entsprechenden Wissens – auch um Unsinn und Fakes erkennen zu können.

Demokratie als Bildungsstruktur: Wissen und Informationen reichen aber nicht aus. Demokratie will erlebt, erfahren und praktiziert werden und es bedarf dafür entsprechender Strukturen, Verfahren und Erfahrungsräume für junge Menschen. Genau deshalb ist Beteiligung so wichtig. Zugleich macht die Kommission deutlich, dass Beteiligung bzw. Partizipation zwar zentrale Voraussetzungen für politische Bildung darstellen, aber noch nicht hinreichen: „Partizipationserfahrungen müssen […] reflektiert und eingebettet sowie nach ihren Lernmöglichkeiten zur Ausbildung der politischen Urteils- und Handlungsfähigkeit befragt werden, um Jugendliche dazu zu befähigen, ihre demokratischen Rechte in der Gesellschaft wahrzunehmen und zu verteidigen“ (Deutscher Bundestag 2020, S. 568) – eine gerade für die Verbände herausfordernde These: Wie macht man das in den unterschiedlichen Kontexten, ohne alle Beteiligten zu überfordern?

Demokratie als Erfahrung politischer Selbstbildung: Die dritte Dimension verweist auf die Seite der Kinder und Jugendlichen und ihre Aneignungspraxis. Dabei werden Kinder und Jugendliche „als Subjekte ihres eigenen Lern- und Bildungsprozesses, aber auch als mögliche politische Akteurinnen und Akteure in den Blick genommen“ (Deutscher Bundestag 2020, S. 131).

Kinder- und Jugendverbände

Politische Bildung innerhalb der Kinder- und Jugendverbände findet in sehr unterschiedlichen Kontexten statt – mit großen Unterschieden zwischen den Verbänden und nicht zuletzt abhängig von ihren inhaltlichen Schwerpunkten. Um es beispielhaft zu formulieren: Politische Bildung hat bei den Falken sowohl inhaltlich als auch in Bezug auf die Formate einen anderen Stellenwert als etwa bei der Jugendfeuerwehr oder der Sportjugend – was in keinem Fall bedeuten soll, dass politische Bildung in den zuletzt genannten Beispielen keine Rolle spielen würde. Um dies jenseits der inhaltlichen Foki der Verbände deutlich zu machen, wählt der 16. KJB einen besonderen Zugang: Er rückt die Strukturen und Verfahren der Verbände auf zwei Ebenen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. In einem ersten Schritt werden dabei die in allen Verbänden – wenn auch mit Variationen – beobachtbaren lokalen Gruppen, die „konstitutiven Kerne“ der Verbände (Deutscher Bundestag 2020, S. 366), beschrieben. Betont werden dabei die „Momente der Freiwilligkeit der Teilnahme, die gruppenbezogene Selbstorganisation bzw. der hohe Grad an Gestaltbarkeit, die weitgehende Gleichaltrigkeit der Gruppenmitglieder und die vergleichsweise stabile Zusammensetzung“ (a. a. O.). Vor allem Freiwilligkeit und Selbstorganisation werden dabei als wesentliche Voraussetzungen politischer Bildungsprozesse gesehen, weil jede Gruppe sich immer wieder neu nicht nur über ihre nächsten Aktivitäten, sondern auch über die Bedingungen, wie sie zu einer Entscheidung darüber kommt, verständigen muss. Die Möglichkeit jedes Mitgliedes, bei Nichteinigung und im Zweifelsfall die Gruppe problemlos verlassen zu können und damit ggf. den Zerfall der Gruppe zu provozieren, schafft einen zwanglosen Rahmen für demokratische Aushandlungsprozesse und inkludierende Einigung.

Darauf aufbauend werden in einem zweiten Schritt die verbandlichen Strukturen und Verfahren sowie die Kreisjugendringe als in dieser Art einzigartige Orte politischer Bildung für junge Menschen in den Blick genommen. In diesem Sinne stellen die Verbände bis hin zu den Dachverbänden und anderen Zusammenschlüssen „über die Jugendgruppen hinaus vielfältige Möglichkeiten der Beteiligung an internen und externen demokratischen Verfahren und Entscheidungen für junge Menschen“ bereit (Deutscher Bundestag 2020, S. 370). Um es einfach zu formulieren: Wer je in einer jugendverbandlichen Landes- und Bundesdelegiertenversammlung das Spiel mit Geschäftsordnungsanträgen verstanden und genutzt hat, hat viel über Demokratie gelernt. Es ist deshalb aus der Sicht des 16. KJB wichtig, dass diese Gremien nicht nur aus einer vereinsrechtlichen Perspektive als unvermeidliche Notwendigkeiten verstanden werden, sondern als Orte politischer Bildung begriffen und entsprechend vorbereitet und gestaltet werden – auch um Enttäuschung über die öde Sitzung zu vermeiden.

Den Arbeiten an dem Kapitel zur verbandlichen Kinder- und Jugendarbeit im 16. KJB kam zugute, dass zeitgleich die empirische Studie von Rolf Ahlrichs „Demokratiebildung im Jugendverband. Grundlagen – empirische Befunde – Entwicklungsperspektiven“ veröffentlicht wurde.3 Seine Fallbeispiele wie auch die anderen vereinzelt verfügbaren empirischen Daten – wie auch alle Praxiserfahrungen – machen in der Summe deutlich, dass „die Jugendgruppen, die Verbände, die Dachverbände und andere Zusammenschlüsse im Kern demokratisch verfasst sind, dass aber je nach Verband durchaus Entwicklungspotenziale im Hinblick auf politische Bildung vorhanden sind. Von hier aus ergeben sich eine Reihe von kritischen Anfragen an die jeweiligen Verbände bzw. die Chance für die Verbände, sich selbstkritisch zu befragen, ob und inwiefern die angelegten Potenziale politischer Bildung wirklich konsequent genutzt werden“ (Deutscher Bundestag 2020, S. 384). Diese Anfragen richten sich selbstverständlich auch an die Angebote des BDKJ.

Eine besondere Herausforderung bei alledem, die im 16. KJB nicht ausdrücklich diskutiert wird, die aber in der Rezeption immer wieder eine wichtige Rolle spielt, ist der Umstand, dass Kinder- und Jugendverbände wesentlich von Ehrenamtlichen getragen und dass vor allem die Ortsgruppen von jungen Menschen verantwortet werden, die häufig nicht viel älter als die Mitglieder sind. Zugleich formuliert der 16. KJB, wie angedeutet, hohe fachliche Anforderungen an die Angebote politischer Bildung. Nicht zufällig wird im Bericht wiederholt auf große Bedarfe im Bereich der Aus-, Fort- und Weiterbildung verwiesen. Eine der offenen Fragen, die der 16. KJB den Verbänden hinterlässt, ist die Frage, welche Rolle dabei die Ehrenamtlichen spielen können und sollten. Es wäre eine eigene Diskussion wert, wie die Werkstätten der Demokratie im Sinne des 16. KJB vor allem unter dieser Perspektive weiterentwickelt werden können.

Autor des Beitrags:

Dr. Christian Lüders

bis Ende 2020 Abteilungsleiter „Jugend und Jugendhilfe“ am Deutschen Jugendinstitut in München;

Vorsitzender des Bayerischen Landesjugendhilfeausschusses.