Über Sprache, Anstand und den aktuell wahrnehmbaren Politikstil. Wer ist Vorbild und wer trägt Verantwortung? Norbert Harner, BDKJ Diözesanvorsitzender in Augsburg, kommentiert:

Ich bin ein besorgter Bürger, das gebe ich offen zu. Und ich habe Fragen an die Politik, vieles verstehe ich nicht. Seit geraumer Zeit fällt mir auf, dass der Ton in der Politik, die bloße Wahl der Worte, rauer wird. So, als gelte es, die vermeintlich drohende Gefahr in der Sprache abzubilden. Angst macht sich breit, wenn von Flüchtlingswellen die Rede ist. Deutschland wird offenbar überflutet. Das Asylrecht wird mutmaßlich meistens bis immer „missbraucht“ – so der Eindruck beim Lesen der Schlagzeilen.
Der bayerische Ministerpräsident spricht von „Asyltourismus“ und hat kein Problem damit, den ungarischen Präsidenten als „Freund“ zu bezeichnen. Eben dieser glaubt, George Soros wolle Europa mit Muslimen „überschwemmen“.
Dass der italienische Innenminister Geflüchtete als „Menschenfleisch“ bezeichnet wird schulterzuckend hingenommen.
Der Bundesinnenminister erwähnt öffentlich, dass die Abschiebung von 69 Menschen nach Afghanistan nur zufällig an seinem 69. Geburtstag stattfinde.

Hinter den Zahlen stecken echte Menschen

Die bloße Zahl der Geflüchteten wird benutzt, um Angst zu erzeugen. Angst gebiert Abwehrmechanismen und daraus resultiert Abschottung. Vor 80 Jahren, bei der Konferenz von Evian, waren ähnliche Mechanismen zu bemerken. Es ging um die Verteilung von 540.000 Menschen jüdischen Glaubens. „Wisst ihr nicht, dass diese verdammten Zahlen menschliche Wesen sind?“ dachte sich Golda Meir, die spätere Ministerpräsidentin Israels. Sie war als Konferenzbeobachterin in Evian anwesend.

Mir geht es hier gar nicht um die große Politik und ich bin absolut der Meinung, dass Migration nach Regeln verlaufen muss.

Anstand wird schon von Kindern erwartet

Aber mal ganz ehrlich – der Ton macht die Musik und ich stelle hier Vokabular fest, dass ich mir im Rahmen von Veranstaltungen der Kinder- und Jugendarbeit verbitten würde. Der Bildungsauftrag, dem der BDKJ und seine Mitgliedsverbände folgt, beinhaltet ein immanent wertschätzendes Moment. Kindern und Jugendlichen wird am Beispiel gezeigt, wie effektiv und zugleich notwendig Rücksichtnahme ist um miteinander zurecht zu kommen.

Genau dieses Beispiel vermisse ich in der aktuellen politischen Diskussion der verantwortlichen gewählten Mandatsträger*innen. Hat sich da schon mal jemand überlegt, was das für eine Außenwirkung hat, auch im Kleinen? Seit Jahren ist von Politikverdrossenheit die Rede, derartige Problemlösungsstrategien werben nicht unbedingt für ein Engagement in der Politik. Wobei, ich spreche nur für die Menschen innerhalb des BDKJ. Laut einer nicht repräsentativen Umfrage unter Mandatsträger*innen der katholischen Jugendarbeit, wie sie den aktuell wahrnehmbaren Politikstil fänden, wurde ein Wort sehr häufig genannt: ekelhaft.

Von Kindern erwartet man ab einem bestimmten Alter ANSTAND. Aber bitte wo ist der aktuell im politischen Betrieb? Erinnert sich noch irgendwer an die Sache mit der Vorbildfunktion?

Wann ist man glaubwürdig?

Immer wieder beschwören Politiker*innen die sogenannte Glaubwürdigkeit, die nötig wäre. Ich habe manchmal den Eindruck, Glaubwürdigkeit wird mit Verlust des Kurzzeitgedächtnisses erkauft. Als Beispiel kann Äußerung von Herrn Söder („Asyltourismus“) dienen. Dieses Wort wurde wie selbstverständlich von Innenminister Seehofer und CSU-Vize Julia Klöckner übernommen. Die Verrohung der Sprache, der fehlende Anstand wurde dann richtigerweise von einem Bündnis von über 130 Gruppierungen im Rahmen der Demonstration „ausgehetzt“ am 22.07.18 benannt. Es wäre ehrlich gewesen, die CSU hätte gesagt: Ja, recht habt ihr und es tut uns leid, was da passiert ist. Nein, sowas passiert natürlich nicht. Es findet eine Demo GEGEN Hetzte statt und die CSU plakatiert DAGEGEN. Den Demonstrierenden wird vorgeworfen, politischen Anstand missen zu lassen. Der Kreis schließt sich – wer ist Vorbild und wer trägt Verantwortung?

Gerade eben hat doch ein bayerischer Politiker von der christlich-jüdischen Tradition gesprochen, die wäre in Bayern so wichtig. Darum müsse man auch in allen Amtsstuben Kreuze aufhängen – mir fällt es schwer das ernst zu nehmen, wenn der gleiche es offenbar mit zentralen Aussagen des Neuen Testamentes nicht so genau nimmt. Unter anderem geht es da um Nächstenliebe.

In meiner Welt ist dieser Ausdruck kein (positives) Aushängeschild. Aber leider bin ich mir sicher, auch in der großen Politik passiert nichts ohne Grund. Also muss ich annehmen, die Wortwahl erfolgt bewusst und möchte Menschen erreichen. Für mich kann ich feststellen, sollte ich adressierte Zielgruppe sein, ich fühle mich abgestoßen. Von einer Volkspartei.

Wir müssen laut werden

Ich bin so verwegen und behaupte, es geht vielen wie mir. Der schweigenden Masse hoffentlich, die sich auch Sorgen macht und sich daran erinnert, „dass diese verdammten Zahlen menschliche Wesen sind“.

Wir müssen laut werden, die anderen sind es schon.

 

Zum Autor des Kommentars: Norbert Harner ist BDKJ Diözesanvorsitzender im Bistum Augsburg.