Gelebte Vielfalt in der Bayerischen Jugendarbeit – Teamer*innenausbildung DITIB Jugend Bayern
Es ist Freitagabend in der Jugendsiedlung Hochland in Königsdorf. Eine kleine Runde sitzt schon am Esstisch, als ich etwas aus der Puste die Küche betrete.
Nach einem hektischen „Hallo, Selamun aleykum“ (= Friede sei mit dir) an alle fragen mich Eva und Michi „Ja wo bleibt denn der Rest?“. „Hmm gute Frage“ denke ich mir, denn ca. die Hälfte der Teilnehmer unserer erstmals organisierten Teamer*innenausbildung, geleitet von Eva Jelen (Landesvorsitzende BDKJ Bayern) und Michael Kral (Diözesanleiter der KjG München und Freising), sind noch nicht anwesend. Eine Autopanne auf der Hinfahrt und ein stundenlanger Stau auf der Autobahn führen dazu, dass wir unser Programm sehr verspätet aufnehmen. „Das fängt ja richtig toll an, was sie (gemeint sind Eva und Michi) jetzt wohl von uns denken“ geht mir ständig durch den Kopf. Wo wir doch so gern einen positiven Eindruck über unsere, die muslimische Jugendarbeit, hinterlassen wollen. „Naja das wird schon werden“ denke ich mir und lasse mich auf die Leitung ein.
Ein Klassiker: der Namenszug
Schnell haben Eva und Michi die am Anfang etwas mulmige Atmosphäre im Griff und nach der ersten Vorstellungsrunde geht es auch schon weiter zu einem Kennenlern-Spiel: Der Namenszug. Dabei zieht der*die Spielleiter*in eine Lokomotive imitierend, mit „Sch sch sch“ Rufen zu einer Person und stellt sich vor. Nachdem der oder diejenige sich ebenfalls vorgestellt hat, dreht sich der*die Spielleiter*in einmal um sich selbst herum und jubelt dabei den zuletzt genannten Namen wie ein*e Wahnsinnige*r. So zieht der Zug von Person zu Person und holt jede*n einzelne*n von seinem*ihrem Platz ab. Auch wenn sich so ziemlich jede*r von uns albern vorkommt, machen wir mit. Bei der Abendreflexion stellt sich heraus, dass einige von uns bei diesem Spiel ihre Komfortzone verlassen und sich dabei unwohl gefühlt haben.
Genau hier kommen die Unterschiede zwischen den beiden Jugendverbänden erstmals zum Vorschein: Der BDKJ Bayern, geprägt durch seine pädagogische Expertise und die DITIB Jugend Bayern, ein junger dynamischer Jugendverband in seiner Aufbau- und Orientierungsphase. Meine Erwartungshaltung, möglichst viel von dieser Expertise für die muslimische Jugendarbeit mitzunehmen, wird gänzlich erfüllt. Wir lernen viele neue Methoden, Spiele und Inhalte kennen und haben die Möglichkeit die eigenen kommunikativen, methodischen und didaktischen Fähigkeiten als Trainer*innen zur verbessern. Auch erkenne ich erstmals die enorme Relevanz von Selbstreflexion und qualifiziertem Feedback und erlebe wie sie uns persönlich und als Gruppe voranbringt.
Akzeptanz religiöser Unterschiede
Der größte Faktor für den Erfolg dieser Schulung ist das super dynamische, eingespielte und hoch motivierte BDKJ-Team, das uns von Anfang an sehr offen und verständnisvoll begegnet. Entsprechend ihrer interkulturellen und interreligiösen Kompetenz werden, zu meiner Überraschung, beispielsweise unsere religiösen Sensibilitäten ohne bohrende unangenehme Fragen selbstverständlich akzeptiert. Z.B. wird bei diversen Spielen, die wir als unangenehm empfinden, gemischtgeschlechtlicher Körperkontakt vermieden oder, entsprechend unserer Gebetszeiten, das Programm angepasst. Dadurch haben wir eine grundlegende Vertrauensbasis geschaffen, die insbesondere auch durch die privaten Gespräche über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Jugendverband, dem Glauben und der Religionspraxis verstärkt wird. „Und was ist jetzt denn der Unterschied zwischen dem Christkind und dem Nikolaus, wer feiert was und weshalb?“, „Wie sieht denn eine christliche Wallfahrt aus und was sind die Etappen der muslimischen Pilgerfahrt nach Mekka?“. „Wie werden denn die Landesvorstände beim BDKJ Bayern und der DITIB Jugend Bayern gewählt und von wem? “.
Ich werde nicht aufgefordert als vermeintliche Islam-Türkei-Integrationsexpertin für irgendetwas Rechtfertigungen oder sozialpolitische Analysen liefern zu müssen. Stattdessen erzähle ich aufgrund des aufgebauten Vertrauens von mir aus – unaufgefordert – gerne über meine privaten Erfahrungen und Gefühle in diesem Kontext. Diese intensiven Gespräche bis tief in die Nacht sind zutiefst persönlich und entspringen echtem Interesse an dem Menschen gegenüber und nicht einer künstlichen Dialogbereitschaft, die zu politischen Zwecken, weil jetzt Vielfalt und Multikulti aktuell so Hype ist, gezeigt werden muss. Das Ergebnis dieses intensiven Austausches ist, dass wir unter dem Strich alle Jugendverbanlder*innen sind, mit dem gemeinsamen Ziel Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene auf ihrem Weg zu verantwortungsbewussten, selbstkritischen, aktiven und partizipierenden Gliedern dieser Gesellschaft zu begleiten. Selbst wenn die Motivationsquelle hierfür eine andere ist.
Meine anfänglichen Bedenken „Was denken sie jetzt von uns“ entspringt der festgefahrenen Grundhaltung junger Muslime in Deutschland, stets einen positiven Eindruck hinterlassen zu müssen. In der Mehrheitsgesellschaft werden wir in der Regel nicht als ein unabhängiges Individuum, sondern als Repräsentant*innen einer ganzen Gemeinschaft, ja sogar einer ganzen Religion oder Nation, wahrgenommen und dementsprechend krampfhaft versuchen wir dieser großen Last gerecht zu werden.
Vielen lieben Dank an Eva und Michi, dass ich ICH selbst sein durfte und mich unter eurer Leitung so wohl und willkommen fühlen durfte.
Zur Autorin:
Nurseda Başkent ist ehrenamtlichen in der DITIB Jugend Bayern aktiv.
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